Introvision ist eine Methode der Innenschau, mit der innere Konflikte aufgelöst werden können. In dieser Innenschau wendet man sich achtsam inneren Irritationen und Konfusionen zu, die bei näherer konstatierend-aufmerksamer Betrachtung ihre konflikthafte Energie verlieren. Dadurch kann integriert werden, was man eigentlich vermeiden möchte. Prof. Dr. Telse Iwers, Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg erklärt die Methode. Sie spricht im Interview über Introvision als eine Form der Achtsamkeit, die mit Wertschätzung verbunden ist und Resilienz fördert.
Interview mit Prof. Dr. MHEd. Telse Iwers
Introvision ist eine Methode zur Förderung von Gelassenheit und Resilienz. Was ist über die Wirksamkeit bekannt?
Im Laufe der Entwicklung dieses Ansatzes haben wir zahlreiche Wirkzusammenhänge untersucht. Die wesentlichste Erkenntnis ist, dass die Art unseres Denkens und Reflektierens bedeutsam und veränderbar ist, ganz unabhängig von den Inhalten. Wenn es gelingt, konflikthaften Gedanken die emotionale Brisanz zu nehmen und sie konstatierend zu betrachten, können Konflikte gelöst werden.
Diese grundlegende Erkenntnis führte dazu, ein schrittweises Programm zu gestalten, mit dem konstatierende Wahrnehmung des eigenen Innenlebens erlernbar wird. Dieses Programm haben wir KAW genannt: Das Konstatierende Aufmerksame Wahrnehmen.
Wir schulen unsere Teilnehmenden und Klient:innen zunächst in dieser Wahrnehmungsmodalität und im nächsten Schritt unterstützen wir sie dabei, ihren Konflikten konstatierend und aufmerksam zu begegnen. So entsteht eine gelassenere Wahrnehmung der Konfliktinhalte und im nächsten Schritt Handlungsfähigkeit, die ggf. vorher durch zu viel konflikthafte Energie verstellt war.
Wir haben zahlreiche Untersuchungen zur Wirksamkeit des Konstatierenden Aufmerksamen Wahrnehmens in vielfältigen Bereichen durchgeführt, z.B. zur Verringerung von Lern- und Schreibblockaden, zur Reduktion von Perfektionismus oder zum Abbau von Rede- und Prüfungsangst. Ich habe im Bereich Depression, Selbst- und Sozialkompetenz sowie Beratungskompetenz gearbeitet und geforscht – mit positiven Ergebnissen.
Andere Studien zeigen auch im psychosomatischen Bereich positive Wirkungen von Introvision z. B. auf Migräne, Verspannungen, Tinnitus und andere körperliche Belastungen.
Wie genau wirkt sich Introvision aus?
Unsere Interaktionen werden maßgeblich von dem bestimmt, was wir „subjektive Imperative“ nennen. Das sind Gedanken wie „Etwas muss so oder so sein!“ und „Etwas darf auf keinen Fall so oder so eintreten!“ Auf eine Lehrerin bezogen hieße das z.B.: „Es darf nicht sein, dass der Schüler Max dieses oder jenes über mich sagt!“ Er hat es aber gesagt, und dann gerate ich in einen inneren Konflikt.
In der Introvision gehen wir dem nach, was diesem Konflikt in uns zugrunde liegt. Wir fragen: Was ist das Schlimme daran, dass der Schüler so über mich spricht? Das hat ja etwas mit mir zu tun. Diesem Schlimmen begegnen wir mit der Methode des Konstatierenden Aufmerksamen Wahrnehmens. Introvision meint, dieses Schlimme anzuschauen und es nicht zu vermeiden. Das, was darunterliegt, nennen wir die „Sub-Kognition“, in diesem Fall zum Beispiel die Befürchtung, dass andere über mich lachen. Und hier haben wir den nächsten subjektiven Imperativ: „Es darf nicht sein, dass andere über mich lachen!“ Auch dieser subjektive Imperativ kann konstatierend aufmerksam wahrgenommen werden. So durchschreiten wir Schicht für Schicht des Konfliktes, bis wir zu einem gefühlten Kern, einem subjektiv wirklich bedeutsamen Inhalt von Imperativen kommen, in unserem Beispiel vielleicht zu der Angst, sich zu blamieren. Diese Angst schauen wir wiederum konstatierend aufmerksam an, und zwar mit dem Ziel, sie in das eigene Selbstkonzept integrieren zu können. Es besteht die Möglichkeit, dass ich mich blamiere. Dieses Blamieren muss ich nach einer erfolgreichen Introvision nicht mehr unbedingt ausklammern, sondern kann mich ihm zuwenden und es annehmen.
Können Sie noch ein Beispiel geben?
Der amerikanische Autor Michael Crichton hat einen Reisebericht geschrieben. Er war in der Wüste unterwegs und schildert, wie er in seinem Zelt liegt und plötzlich Geräusche hört. Er hat Angst und denkt: „Es könnte sein, dass ein Elefant in der Nähe ist.“ Dann entsteht Panik, wir kennen das alle. Er dreht sich in die Gedanken hinein und erstarrt förmlich in dieser Spannung. Er wird regelrecht hysterisch, ist unfähig, zu handeln.
Er kommt dann an einen Punkt, an dem er denkt: „Ich muss etwas tun, sonst werde ich verrückt!“ Er öffnet das Zelt und da steht ein Elefant. Es ist eingetreten, was er befürchtet hat – allerdings kann er seine Gedanken jetzt darauf fokussieren, mit der Situation umzugehen, anstatt die Möglichkeit, einen Elefanten anzutreffen, permanent ausklammern zu müssen. Diesen Schritt zu tun ist Introvision. Wir öffnen quasi das Zelt und blicken dem, was wir fürchten, was uns schmerzt oder hindert, ins Auge und werden dadurch wieder handlungsfähig.
Ist Introvision damit das Gegenteil von Vermeidung?
Ja, genau, und dadurch löst sich die innere Anspannung. Es kann sein, dass ich mich blamiere. Ich schaue dieser Möglichkeit achtsam ins Auge. In verschiedenen Wahrnehmungskonzeptionen sprechen wir von Gewahrsein (engl. awareness) und Achtsamkeit (mindfulness) – und zwar nicht nur gegenüber den positiven Dingen, zu denen es mich hinzieht, sondern gegenüber allem, was ist, einschließlich der Dinge, die ich vermeiden möchte, ablehne usw.. Die Introvision ist ein Weg, dieses Gewahrsein zu entwickeln und den inneren bisher aufgeladenen Gedanken Gedanken gegenüber achtsam zu werden.
Braucht man für die Introvision eine Therapeutin, einen Therapeuten?
Grundsätzlich ist die Introvision ein Verfahren zur Selbstregulation. Sie wurde entwickelt, um innere Konflikte zu erkennen und aufzulösen, auch ohne aufwendige Therapie. Introvision setzt also keine/n Therapeut:in voraus. Inwieweit sie selbst angewendet werden kann, ist allerdings eine Frage, die vom Grad der Belastungen und von der Kenntnis des Verfahrens abhängt. Sicher gibt es Themen und Belastungen, die eine professionelle Begleitung des Introvisionsprozesses erforderlich machen können.
In der Introvisionsberatung vermitteln wir den Menschen erst einmal das Verfahren des Konstatierenden Aufmerksamen Wahrnehmens. Wenn sie die Methode kennengelernt haben, werden sie in den ersten Sitzungen der eigenen Innenschau begleitet. Danach können sie die Introvision meist eigenständig anwenden oder bei Bedarf eine Introvisionsberatung in Anspruch nehmen. Wichtig ist uns die Autonomie der/des Ratsuchenden. Sie/er entscheidet, ob sie/er die Introvision allein anwendet oder Beratung dazu holt.
Würden Sie Introvision als eine Form der Achtsamkeit verstehen? Sie beschreiben den Kern der Methode ja mit dem Begriff „Konstatierendes Aufmerksames Wahrnehmen (KAW)“.
Ja, Introvision ist eine Form der Achtsamkeit. Beim Konstatieren geht es darum, frei von Bewertungen wahrzunehmen. Wir fangen an bei Geräuschen. Egal, ob ein Auto vorbei rast oder ein Vogel singt, wir üben uns darin, alles gleichwertig wahrzunehmen, ohne das Hören mit Gedanken zu überladen. Man kann z.B. den Alltagsgeräuschen so fünf Minuten folgen.
Wenn wir das geschult haben, ist der nächste Schritt, Umgebungen wahrzunehmen: „Erinnere dich, wie du auf einer Blumenwiese gestanden hast. Stell den Blick ganz weit: Was gibt es da alles zu sehen. Bleibe nur bei der Aufmerksamkeit.“ Das kann man einige Minuten üben. Dann stellt man sich einen grauen, verregneten Sonntag vor, mit allem was dazu gehört und verfährt genauso wertfrei. Dieses Konstatieren muss man lernen.
Erst danach wendet man sich den subjektiven Imperativen zu. Wenn wir herausgefunden haben, ob es einen Kernimperativ gibt und wie er lauten könnte (aus unserem obigen Beispiel: „Ich darf mich nicht blamieren!“), richten wir darauf die konstatierende Aufmerksamkeit.
Ist das eine Analyse oder nur eine nicht bewertende Wahrnehmung?
Wenn wir rückverfolgen, welche Imperativkette einem inneren Konflikt zugrunde liegt, analysieren wir. Sobald wir den Kernimperativ gefunden haben, stellen wir das Bewusstsein weit und nehmen nur noch wahr. Wir betrachten die Gesamtsituation. Meistens kommt dann ein inneres Bild.
Konkret: Ich betrachte innerlich die Situation, dass ich blamiert werde. „So ist es also. So fühlt es sich an. Mit diesen Gedanken ist es verbunden, …“. Es ist am Anfang nicht so einfach, diesen Modus des akzeptierenden Wahrnehmens aufrechtzuerhalten. Aber je mehr ich die Situation anschaue – in all den verschiedenen (negativen und ggf. auch positiven) Aspekten, die sie für mich hat – um so mehr ist es mir möglich, die Wahrnehmungen zu integrieren. Was ich integrieren kann, muss ich nicht vermeiden, verdrängen oder bekämpfen.
Die Introvision unterscheidet sich von analytischen Verfahren dadurch, dass es hier um Akzeptanz geht. Das Ziel ist nicht, etwas zu erklären, sondern anzunehmen.
Benutzen Sie den Begriff Achtsamkeit in der Introvision?
Ja klar. Ich komme aus der Gestaltpädagogik. Hier arbeiten wir mit Gewahrsein (awareness), einer Vorstufe zur Achtsamkeit. Das Spezifische an Achtsamkeit in der Reflexion ist: Es geht nicht nur um Gewahrsein, um bloßes Wahrnehmen im Hier und Jetzt, sondern das Gewahrsein ist immer gekoppelt mit Wertschätzung. Achtsamkeit hat hier eine positive Konnotation. Ich gehe rücksichtsvoll, akzeptierend mit mir selbst und meinem Gegenüber um. Dadurch entwickle ich auch Resilienz nachfolgenden Konflikten gegenüber.
Aus welcher Quelle kommt diese Bedeutung von Achtsamkeit?
Aus vielen Theorien zur Achtsamkeit in der westlichen Welt, insbesondere im Kontext von Psychotherapie. Auch in der Pädagogik wird es so beschrieben, etwa von Vera Kaltwasser. Achtsamkeit im fernöstlichen Kontext hat noch andere Bedeutungen. Was alle Achtsamkeits-Methoden gemeinsam haben, ist das Ziel, Grübelschleifen zu durchbrechen. Das ist übrigens essenziell für Menschen mit Depression oder depressiven Verstimmungen.
Was hat sich in Ihrem Berufsalltag durch Introvision verändert?
Ich bin viel gelassener geworden, nicht unbedingt in Stresssituationen, aber immer dann, wenn es um Kritik geht, wenn jemand meine Kompetenz in Frage stellt. Ich kann mich offen mit meinen Stärken und Schwächen befassen. Ich kann überlegen, welche Kompetenzen mir noch fehlen und was der nächste Schritt sein könnte, sie zu erwerben. Dadurch kann ich Kritik positiv wenden und Resilienz im Umgang mit den eigenen Schwächen entwickeln.
Das Interview führte Magdalene Asbeck, Referentin für Öffentlichkeitsarbeit am ZFW, am 04.11.2024.