Historie und Heftarchiv
Die Universität Hamburg mit dem Allgemeinen Vorlesungswesen erleben!
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Historie
Zur Entwicklung des "Allgemeinen Vorlesungswesens" in Hamburg
"Die Universität knüpft erstmals in diesem Sommersemester wieder an die bis 1764 zurückreichende Hamburger Tradition des 'Allgemeinen Vorlesungswesens' an." Dies verkündete ein Programm für ein "Allgemeines Vorlesungswesen Sommersemester 1982". Es umfasste eine Veranstaltung: eine Ringvorlesung zum Thema "Umweltprobleme aus der Sicht der Wissenschaften".
1764: erste Vorlesung für die städtische Öffentlichkeit
Was war dieses "Allgemeine Vorlesungswesen", dessen Tradition hier reklamiert wurde? In der Ringvorlesung des letzten Semesters über das Hamburger "Akademische Gymnasium" war zu erfahren, dass es dessen Professor Johann Georg Büsch war, der sich erstmals 1764 mit einer Vorlesung ausdrücklich an die städtische Öffentlichkeit wandte.
"Zweck des akademischen Gymnasii": Verbreitung wissenschaftlicher Bildung
Diese Praxis erhielt 1837 eine gesetzliche Grundlage: Der überkommene "Zweck des akademischen Gymnasii" wurde erweitert um die "Verbreitung wissenschaftlicher, sowohl die allgemeine Bildung befördernder, als in das practische Leben eingreifender Kenntnisse im Allgemeinen". Dieser Aufgabe widmete es sich umso mehr, je weniger reguläre Studenten die Institution besuchten. Als sie 1883 aufgelöst wurde, zielte das einschlägige Gesetz zugleich darauf, das Vorlesungswesen fortzuführen. Dazu wurden vor allem die Direktoren der bestehenden "Wissenschaftlichen Anstalten" in die Pflicht genommen, zugleich aber die Behörde ermächtigt, "auch noch andere öffentliche, nicht öffentliche Vorlesungen oder Einzelvorträge […] zu veranlassen und zu honoriren".
Reform von Werner von Melle vervielfacht Angebot ab 1895
Nach bescheidenen Anfängen sorgte 1895 eine Reform des Vorlesungswesens durch Werner von Melle für eine eindrucksvolle "Erfolgsgeschichte": Binnen kurzem vervielfachte sich das Angebot. Veranstaltungen wurden zu Sequenzen gebündelt, für die Weiterbildung in bestimmten Berufen eingerichtet, Vorlesungen durch Übungen ergänzt. Bald fanden sich unter den Dozenten auch herausragende Gelehrte führender Universitäten.
1911: Edmund Siemers stiftet "Vorlesungsgebäude"
Rapide stiegen die Hörerzahlen. Im Winter 1913/14 besuchten mehr als 10.000 Menschen (deutlich über 40 % Frauen) die anmeldepflichtigen Veranstaltungen, in allen Einzelsitzungen wurden über 116.000 "Köpfe" gezählt. Die Raumnot war durch das "Vorlesungsgebäude" beendet worden, das der Kaufmann Edmund Siemers 1911 übergeben hatte. Mit seinen damals 3.000 Plätzen avancierte es zum Zentrum des Vorlesungswesens, beherbergte eine Reihe geisteswissenschaftlicher "Seminare" sowie das 1908 errichtete "Kolonialinstitut".
Strategisches Ziel: die Errichtung einer Universität in Hamburg
Damit gerät eine zweite Funktion des Vorlesungswesens in den Blick: Sein Ausbau diente immer auch von Melles strategischem Ziel der Errichtung einer Universität in Hamburg. Hierzu hatte er seit 1907 begonnen, auch für andere Wissenschaften eigene Professuren zu schaffen. Bald allerdings versagte ihm die vordemokratische Bürgerschaft die weitere Unterstützung.
Zunächst Ausbau des Kolonialinstituts
Das Kolonialinstitut bot hier einen Ausweg, erfuhr doch sein Ausbau die Zustimmung im Stadtparlament. Erst die Niederlage des Kaiserreiches und die Revolution brachten eine Veränderung dieser Strukturen - und mit ihr die Universität. Eine erstmals demokratisch gewählte Bürgerschaft beschloss im März 1919 ihre Errichtung.
März 1919: Errichtung einer Universität, die strategische Funktion des Vorlesungswesens ist erfüllt
Das Vorlesungswesen hatte damit seine strategische Funktion erfüllt. Jetzt sollte es abgeschafft werden: "Das Allgemeine Vorlesungswesen der Oberschulbehörde ist zu einer Volkshochschule auszugestalten. Die an die Universität zu berufenden Professoren sind zu verpflichten, an der Volkshochschule mitzuarbeiten." Dahinter verbarg sich der Wille, mit der neuen Universität am Beginn der Republik eine demokratische Reforminstitution zu schaffen.
Eine "Zumutung" für Professoren: an der "proletarischen" Volkshochschule zu lehren
Dieser Kontext erklärt die scharfe Opposition der meisten neuen Universitätsprofessoren gegen die "Zumutung", an der "proletarischen" Volkshochschule lehren zu müssen. Das Hochschulgesetz von 1921 präsentierte dann einen Kompromiss: "Die ordentlichen und die außerordentlichen Professoren der Universität sowie die Direktoren und die Assistenten der Wissenschaftlichen Anstalten werden tunlichst [!] zu den Veranstaltungen der Volkshochschule herangezogen." Vorhersehbar betätigten sich nur wenige Professoren als Volkshochschuldozenten.
Allgemeines Vorlesungswesen wird Teil der Universität - innerhalb der regulären Lehrveranstaltungen
Zur Kompensation wurde für nichtstudentische Besucher das Allgemeine Vorlesungswesen fortgeführt, nunmehr als Teil der Universität. An seine Erfolge allerdings konnte es nicht anknüpfen. Für seine Dozenten hatte jetzt die Ausbildung ihrer Studierenden Vorrang. Das Bildungsbedürfnis der außeruniversitären Gruppen wurde auf reguläre Lehrveranstaltungen verwiesen, die in größerer Zahl geöffnet wurden. Doch sie waren zumeist von sehr spezieller Thematik und fanden häufig zu ungünstigen Zeiten statt. Hier bot die neue Volkshochschule eine attraktive Alternative.
Ab 1933 thematischer Schwerpunkt: "Auslandskunde" mit "Deutschtum im Ausland", "Seekriegsgeschichtliche Vortragsreihe"
Mit der nationalsozialistischen Machtübernahme verschwanden bekannte Dozenten. Die "Auslandskunde" rückte ins Zentrum; Germanistik erschien als "Deutschtum im Ausland (deutsche Kolonien)" und als "germanischer Norden". Eine "Seekriegsgeschichtliche Vortragsreihe" wurde bis 1939 fortgeführt. Dann trat die Wirklichkeit an die Stelle heroischer Erinnerung. Das letzte, stark reduzierte Verzeichnis für das Allgemeine Vorlesungswesen erschien zum Sommer 1943; danach verfügte der Reichsstatthalter seine Auflösung.
Auflösung des Vorlesungswesens im Jahre 1959
Nach dem Fiasko des "Dritten Reiches" versuchte auch die Universität, ohne selbstkritische Reflexion an überkommene Traditionen anzuknüpfen. Entsprechend erschien ab Sommersemester 1947 wieder ein Verzeichnis für das Allgemeine Vorlesungswesen. Es setzte die fragwürdige Praxis fort, reguläre Lehrveranstaltungen doppelt anzubieten. Im Sommer 1958 wurden über hundert derartiger Veranstaltungen von lediglich 78 Personen besucht. Im November kam der Rektor zu dem Schluss, "daß diese Institution, die für die Geschichte des Hamburger Bildungswesens sicher von großer Bedeutung ist, heute nicht mehr die Kraft besitzt, um im Rahmen der Universität ein Eigenleben zu führen." Der Vollzug dieser Erkenntnis erfolgte im April 1959.
Start eines neuen "Allgemeinen Vorlesungswesens" 1982 - mit eigenen Themen und in eigenem Format
Dieses klägliche Ende war die späte Folge der Tatsache, dass die Universität es bei ihrer Gründung unterlassen hatte, sich über die Funktion eines weiterbestehenden Allgemeinen Vorlesungswesens Rechenschaft abzulegen. Dessen bisherige Klienten sahen sich in ihren spezifischen Interessen marginalisiert und fanden Alternativen für deren Befriedigung. Zwanzig Jahre später wandte sich die Universität gezielt dem Thema "Universität und Öffentlichkeit" zu. Konkretes Ergebnis dieses umfassend angelegten Projekts war ein neues "Allgemeines Vorlesungswesen" - aber diesmal wieder eines, welches mit eigenen Themen und in eigenen Formen auf außeruniversitäre Interessenten zielte.
Sein bescheidener Start vor dreißig Jahren sollte sich als Beginn einer erneuten Erfolgsgeschichte erweisen.
Eckart Krause
(Beitrag anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des "Allgemeinen Vorlesungswesens" im Sommersemester 2012)
(Beitrag anlässlich des 30-jährigen Jubiläums des "Allgemeinen Vorlesungswesens" im Sommersemester 2012)