Introvision ist ein Verfahren der mentalen Selbstregulation, die bei inneren Konflikten angewendet wird. Man wendet sich achtsam dem zu, was man eigentlich vermeiden möchte. Prof. Dr. Telse Iwers, Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Hamburg erklärt die Methode. Sie spricht im Interview über Introvision als eine Form der Achtsamkeit, die mit Wertschätzung verbunden ist.
Interview mit Prof. Dr. MHEd. Telse Iwers
Introvision ist eine Methode zur mentalen Selbstregulation. Was ist über die Wirksamkeit bekannt?
Studien zeigen positive Wirkungen von Introvision z. B. auf Migräne, Verspannungen, Tinnitus und andere körperliche Belastungen. Ich selbst habe im Bereich Depression, Selbst- und Sozialkompetenz sowie Beratungskompetenz gearbeitet – mit positiven Ergebnissen. Aktuell forsche ich zur Gestaltung von Unterricht.
Wie genau wirkt sich Introversion aus?
Unsere Interaktionen werden maßgeblich von dem bestimmt, was wir „subjektive Imperative“ nennen. Das sind Gedanken wie „Etwas muss so oder so sein!“ und „Etwas darf auf keinen Fall so oder so eintreten!“. Auf eine Lehrerin bezogen hieße das z.B.: „Es darf nicht sein, dass der Schüler Max dieses oder jenes über mich sagt“. Er hat es aber gesagt, und dann gerate ich in einen inneren Konflikt.
In der Introvision erforschen wir, was diesem Konflikt in uns zugrunde liegt. Wir fragen: Was ist das Schlimme daran, dass der Schüler so über mich spricht? Das hat ja etwas mit mir zu tun. Das, was darunterliegt, nennen wir die „Sub-Kognition“, in diesem Fall zum Beispiel die Befürchtung, dass andere über mich lachen. Und hier haben wir den nächsten Imperativ: „Es darf nicht sein, dass andere über mich lachen!“.
So geht es Schicht für Schicht immer tiefer, bis wir zum Kern kommen, zum Beispiel meine Angst, mich zu blamieren. Dieser Angst bin ich mir aber nicht bewusst, denn ich kleide meine subjektiven Imperative in den Satz „Max darf nicht so über mich sprechen!“
Wir untersuchen unsere eigenen subjektiven Imperative Schicht für Schicht, bis wir zum Kern des Problems vordringen, zum Beispiel die Angst, sich zu blamieren. Diese Angst schauen wir achtsam an. Dann erst kann ich sie integrieren und in die Situation neu hineingehen mit der Möglichkeit: „Es kann sein, dass ich mich blamiere“. Dieses Blamieren muss ich nach einer erfolgreichen Introvision nicht mehr unbedingt ausklammern, sondern kann mich ihm zuwenden und es annehmen.
Können Sie noch ein Beispiel geben?
Der amerikanische Autor Michael Crichton hat einen Reisebericht geschrieben. Er war in der Wüste unterwegs und schreibt, wie er in seinem Zelt liegt und plötzlich Geräusche hört. Er hat Angst und denkt: „Es könnte sein, dass ein Elefant in der Nähe ist.“ Dann entsteht Panik, wir kennen das alle. Er dreht sich in die Gedanken hinein und erstarrt förmlich in dieser Spannung. Er wird regelrecht hysterisch, kann aber nichts tun.
Er ist dann an einem Punkt angelangt, an dem er denkt, ich muss etwas tun, sonst werde ich verrückt. Er öffnet die Zelttür und da steht ein Elefant. Es ist eingetreten, was er befürchtet hat – allerdings kann er seine Gedanken jetzt darauf fokussieren, mit der Situation umzugehen, anstatt die Möglichkeit, einen Elefanten anzutreffen, permanent ausklammern zu müssen. Diesen Schritt zu tun ist Introvision. Wir blicken dem, was wir fürchten, was uns schmerzt oder hindert, ins Auge und werden dadurch wieder handlungsfähig.
Vermeidungstaktik hilft nicht weiter
Ist Introvision damit das Gegenteil von Vermeidung?
Ja, genau, und dadurch löst sich die innere Anspannung. Es kann sein, dass ich blamiert werde. Ich schaue dieser Möglichkeit achtsam ins Auge. In der Gestaltarbeit sprechen wir von Gewahrsein (engl. awareness) – und zwar nicht nur gegenüber den positiven Dingen, zu denen es mich hinzieht, sondern zu allem, was ist, einschließlich der Dinge, die ich vermeiden möchte, ablehne usw.. Die Introvision ist ein Weg, dieses Gewahrsein zu entwickeln.
Die eigenen Sub-Kognitionen werden immer weiter zurückverfolgt, bis ich zum Kern vordringe, an dem es bedeutsam ist, manchmal auch unangenehm. „Es darf nicht sein, dass ich mich wieder so fühle wie damals!“ Wenn ich diese Möglichkeit aber zulasse, dass ich mich wieder so fühle wie in einer zurückliegenden unangenehmen Situation, dann kann ich mich dazu in Beziehung setzen. Ich kann dann angemessen handeln.
Das Vermeiden macht das Entstehen von subjektiven Imperativen aus, die dann dazu führen, dass wir unangemessen reagieren.
Braucht man für die Introvision eine Therapeutin, einen Therapeuten?
Das kommt darauf an. In der Introvisionsberatung vermitteln wir den Menschen erst einmal das Verfahren. Wenn sie die Methode kennengelernt haben, werden sie in den ersten Sitzungen begleitet. Danach können sie Introvision eigenständig anwenden und bei Bedarf eine Introvisionsberatung in Anspruch nehmen. Wichtig ist uns die Autonomie der/des Ratsuchenden. Sie/er entscheidet, ob sie/er es allein anwendet oder Beratung dazu holt.
Frei von Bewertungen wahrnehmen
Würden Sie Introvision als eine Form der Achtsamkeit verstehen? Sie benutzen ja den Begriff „Konstatierende Aufmerksame Wahrnehmung (KAW)“.
Ja, Introvision ist eine Form der Achtsamkeit. Beim Konstatieren geht es darum, frei von Bewertungen wahrzunehmen. Wir fangen an bei Geräuschen. Egal, ob ein Auto vorbeirast oder ein Vogel singt, wir üben uns darin, alles gleichwertig wahrzunehmen, ohne das Hören mit Gedanken zu überladen. Man kann z.B. fünf Minuten so den Alltagsgeräuschen folgen.
Wenn wir das geschult haben, ist der nächste Schritt, Umgebungen wahrzunehmen: „Erinnere dich, wie du auf einer Blumenwiese gestanden hast. Stell den Blick ganz weit: Was gibt es da alles zu sehen. Bleibe nur bei der Aufmerksamkeit.“ Das kann man einige Minuten üben. Dann stellt man sich einen grauen, verregneten Sonntag vor, mit allem was dazu gehört und verfährt genauso wertfrei. Dieses Konstatieren muss man lernen.
Erst danach wendet man sich den subjektiven Imperativen zu. Wenn wir herausgefunden haben, ob es einen Kernimperativ gibt und wie er lauten könnte („Ich darf mich nicht blamieren!“), richten wir darauf die konstatierende Aufmerksamkeit.
Ist das eine Analyse oder nur eine nicht bewertende Wahrnehmung?
Wenn wir rückverfolgen, welche Imperativkette einem inneren Konflikt zugrunde liegt, analysieren wir. Sobald wir den Kernimperativ gefunden haben, stellen wir das Bewusstsein weit und nehmen nur noch wahr. Wir betrachten die Gesamtsituation. Meistens kommt dann ein inneres Bild.
Konkret: Ich betrachte innerlich die Situation, dass ich blamiert werde. „So ist es also. So fühlt es sich an. Mit diesen Gedanken ist es verbunden, …“. Es ist am Anfang nicht so einfach, diesen Modus des akzeptierenden Wahrnehmens aufrechtzuerhalten. Aber je mehr ich es anschaue – in all den verschiedenen (negative und ggf. auch positiven) Aspekten, die es für mich hat – um so mehr kann ich es integrieren. Was ich integrieren kann, muss ich nicht vermeiden oder bekämpfen.
Die Introvision unterscheidet sich von analytischen Verfahren dadurch, dass es hier um Akzeptanz geht. Das Ziel ist nicht, etwas zu erklären, sondern anzunehmen.
Achtsamkeit in die eigene Biografie hinein
Benutzen Sie den Begriff Achtsamkeit in der Introvision?
Ja klar. Ich komme aus der Gestaltpädagogik. Hier arbeiten wir mit Gewahrsein (awareness), eine Vorstufe zur Achtsamkeit. Das Spezifische an Achtsamkeit in der Reflexion ist: Es geht nicht nur um Gewahrsein, um bloßes Wahrnehmen im Hier und Jetzt, sondern sie ist immer gekoppelt mit Wertschätzung. Achtsamkeit hat hier eine positive Konnotation. Ich gehe rücksichtsvoll, akzeptierend mit mir selbst und meinem Gegenüber um.
Aus welcher Quelle kommt diese Bedeutung von Achtsamkeit?
Aus vielen Theorien zur Achtsamkeit in der westlichen Welt, insbesondere im Kontext von Psychotherapie. Auch in der Pädagogik wird es so beschrieben, etwa von Vera Kaltwasser. Achtsamkeit im fernöstlichen Kontext hat noch andere Bedeutungen. Was alle Achtsamkeits-Methoden gemeinsam haben, ist das Ziel, Grübelschleifen zu durchbrechen. Das ist übrigens essenziell für Menschen mit Depression oder depressiven Verstimmungen.
Was hat sich in Ihrem Berufsalltag durch Introvision verändert?
Ich bin viel gelassener geworden, nicht unbedingt in Stresssituationen, aber immer dann, wenn es um Kritik geht, wenn jemand meine Kompetenz in Frage stellt. Ich kann mich offen mit meinen Stärken und Schwächen befassen. Ich kann überlegen, welche Kompetenzen mir noch fehlen und was der nächste Schritt sein könnte, sie zu erwerben.