Nähe und seelische Gesundheit
Zur Anthropologie von Gesundheit und Krankheit in der Psychiatrie zur Corona-Zeit
Nähe ist schön und manchmal schwierig. Wir können sie wünschen und fürchten – sie ist existentiell für unser Leben, unsere Gesundheit. Und wenn wir trotzdem erkranken, ist der Wesenskern von
(Psycho)Therapie persönliche Begegnung. Und nun? Die Corona-Krise konfrontiert uns mit Abstandsregeln, manche mit Isolation. In der Öffentlichkeit verschwinden Gesichter hinter Masken – was macht das mit uns? Wir haben Angst vor dem Virus, vor der Ohnmacht (der Medizin), vor der eigenen Überforderung im Alltag. Schreckliche Bilder prägen uns. Wie bewahren wir Hoffnung? Müssen wir die Nähe retten? Oder müssen wir umdenken: Mehr Home-Office, mehr virtuelle Therapie, Video-
konferenzen, Chatrooms .... Was wird aus Nähe, Bindung, Liebe, Vernunft ...
Ziel der Vorlesungsreihe Anthropologische Psychiatrie ist seit ihrem Start im Jahr 2000, psychischen Erkrankungen nicht auf die Abweichung von Normen oder die Folge entgleister Transmitter zu reduzieren, sondern den ganzen Menschen zu sehen und den fließenden Übergang zu betonen: Niemand ist nur gesund oder nur krank. Unser Verständnis von Krisen und Hilfen muss widersprüchlich und vielseitig sein, hat auch eine politische und kulturelle Dimension: Seelische Gesundheit erfordert gesunde Umwelt und soziale Städte/Orte, eine gesunde Verteilung von Ressourcen - mit Vorteil für alle: Was psychisch sensiblen Menschen gut tut, ist gesund für uns alle. Gilt das auch für die Nähe?
Die Vorträge werden als Lecture2Go-Aufzeichnung angeboten
(Der Vortragstitel wird verlinkt sobald die Aufnahmen online zur Verfügung stehen)
27.10.2020
Bedeutung von persönlicher Nähe und Begegnung – oder müssen wir umdenken?
Therapie lebt von Begegnung; das gilt auch für die Peer-Arbeit / Genesungsbegleitung! Die Art, wie wir Nähe und Begegnung leben, ist verschieden. Müssen wir nun alle umdenken, uns an Masken gewöhnen und unsere Kommunikation virtuell erweitern? Und was bedeutet das für psychische Gesundheit und Krankheit, für unser Leben mit und ohne Psychiatrie?
TeilnehmerInnen EXperienced-INvolvement-Kurs 14 und Gyöngyver Sielaff
10.11.2020
Wenn die Gefahr von Außen alle betrifft – macht Corona solidarischer?
Mehr Gleichheit auch in der Psychiatrie? Plötzlich ging vieles nicht mehr. Gewohnte Kontakte / Gruppen waren blockiert. Wer konnte, mied die Station – schon allein wegen der Ansteckungsgefahr. Eine Chance, die Psychiatrie vom Kopf auf die Füße zu stellen? Plötzlich sitzen alle in einem Boot, wird Angst Allgemeingut, Bedrohung selbstverständlich, Zwangshandlung zum verordneten Ritual. Eine Chance, psychische Störung anders wahrzunehmen, sich mehr als bisher symmetrisch als Subjekte zu begegnen? Verändern Abstand und Masken unsere Begegnungskultur?
Gwen Schulz, Genesungsbegleiterin / Prof. Dr. Thomas Bock, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
24.11.2020
Liebe zu Zeiten der Corona-Krise
Abstand, Rückzug, Angst vor Ansteckung – werden wir künftig Nähe meiden? Oder müssen wir jetzt immer treu bleiben? Wird Liebe einsam? Oder wird sich unser Mut durchsetzen? Können wir unserer Wildheit vertrauen? Ist die Erotik stärker als ein Virus (ist ja nicht der erste)? Mit Online-Angeboten können wir sie abholen, Mut machen, stärken ... Persönliche Begegnung geht nicht verloren, sondern gewinnt hinzu! Zwei Perspektiven und Erfahrungen aus der Praxis begegnen sich.
Bianca Scheunemann, Genesungsbegleiterin / PD Dr. Daniel Schöttle, Oberarzt Station Psycholsen und bipolare Strörungen, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
08.12.2020
Flucht nach vorne – online geht mehr als wir denken!
Manche Menschen verbringen viel Zeit am Computer, sind zurückhaltend mit Begegnung, haben schlechte Erfahrung gemacht oder Angst davor. Mit Online-Angeboten können wir sie abholen, Mut machen, stärken, ... persönliche Begegnung geht nicht verloren, sondern gewinnt hinzu! Zwei Perspektiven und Erfahrungen aus der Praxis begegnen sich.
Reiner Ott, Genesungsbegleiter, Hamburg / Michael Schweiger, Geschäftsführung und Bereichsleitung Integrationsfachdienst, ARINET gGmbH
26.01.2021
Inflation der Verschwörungstheorien – wer schwört wem?
Mancher Wahn entsteht aus dem berechtigten Wunsch, ungewohnte Wahrnehmungen zu erklären: Besser irgendeine Erklärung als keine. Ist das auch die Erklärung für die aktuelle Inflation an Verschwörungstheorien? Warum verlieren wir den Verstand oder zumindest unser Wissen, irren zu können? Wann wird aus Wahn Gewissheit? Wann wird die private Theorie politisch bedrohlich? Ist dann die Nähe zu uns selbst in Gefahr?
Prof. Dr. Michael Butter, Institut für Anglistik, Universität Tübingen
09.02.2021
„Völlige Gehirnerweichung“ – zu Gottfried Benn und Else Lasker-Schüler
Else Lasker-Schüler und Gottfried Benn befremdeten und schockierten vor über 100 Jahren ihre Zeitgenossen, sie mit ihrer leidenschaftlichen und schwärmerischen Dichtung (und mit ihrem Auftreten); er, der Arzt und Schriftsteller war, mit Gedichten aus dem Leichenschauhaus in seinem ersten Gedichtband „Morgue“. Beide verband in den Jahren 1912/13 eine kurze und intensive Liebesbeziehung, die auch poetisch ihren Niederschlag fand. Während viele Literaturwissenschaftler ihre Grundverschiedenheit betonen, sagt Kerstin Decker, dass das Gegenteil der Fall sei: „Seele erkennt Seele“. Beide kennen „Zustände, wo jedes Ich aufhört – eine Grunderfahrung des Dichtens….und Zustände, wenn das Ich wieder fest wird und sich unendlich vervielfacht“. In ihren Gedichten drücken sie Grenzzustände aus, die spannungsreich, zutiefst menschlich und doch fremd sind.
Dr. Marlies Graser, Peerbegleiterin St. Josephs-Krankenhaus/ Dr. Torsten Flögel, Beschwerdestelle Psychiatrie, beide Berlin
Koordination
Prof. Dr. Thomas Bock / Dr. Candelaria Mahlke, beide Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf